Fernschach. Ein altehrwürdiges Format in neuem Glanz?

Rückblick

Ich muss in etwa so alt gewesen sein, wie unsere nachrückende Jugend heute, als ich in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts erstmals mit Fernschach in Berührung kam.

Damals gab es noch kein Internet (ja, das war wirklich so!) und es wurden tatsächlich eigens für diese Art des Wettbewerbs hergestellte Fernschachkarten für die postalische Zugübermittlung verwendet.

So sahen sie aus

Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich Mitglied im BdF war, dem Bund deutscher Fernschachfreunde, und teilweise gleich mehrere Turniere parallel spielte. Schon damals schien es mir eine gute Möglichkeit zu sein, an meinem Eröffnungsrepertoire zu feilen und zusätzlich neue Varianten auszuprobieren, ohne Gefahr zu laufen, sofortigen Schiffbruch zu erleiden.

Ich besaß zwei Stempel für Datum und Zugcode, um Porto zu sparen, denn Drucksachen durften keinen handschriftlichen Text enthalten und konnte es kaum erwarten, die tägliche Post nach den neuesten Antworten meiner Gegner zu durchsuchen. Sogar in der Schule packte ich in den Pausen gelegentlich mein Schachbrett aus, um besonders interessante Partien weiter zu analysieren.

Eine außergewöhnliche Partie wird mir dabei für immer in guter Erinnerung bleiben. In der ultra-scharfen Französischen Winawer-Poisoned-Pawn Variante musste ich beim Gegenangriff eine exakte taktische Zugfolge finden, um den Sieg davon tragen zu können. Ich war erfolgreich und nach der Aufgabe meines Gegners stolz wie Oskar!

Eine Übung, für die heutige Engines, wenn überhaupt, lediglich wenige Sekunden benötigen. Nur das befriedigende Gefühl, eine Stellung verstanden, korrekt eingeschätzt und erfolgreich zu Ende gespielt zu haben, werden sie uns niemals vermitteln können!

Doch mit der Zeit und fortschreitendem Alter verlor ich leider das Interesse und beendete meine Mitgliedschaft im BdF wieder. Das Leben veränderte sich und das altehrwürdige Fernschach schien mir nicht mehr zeitgemäß. Eine Fehleinschätzung?

Zeitsprung

Unsere Oberliga Jugend war gerade zum sechsten Mal in Folge Bayerischer Meister geworden und krönte eine tolle Saison mit dem 3. Platz bei der Deutschen Meisterschaft in Braunschweig Ende Dezember 2019.

Die Damenmannschaft schaffte in einem Herzschlagfinale im Kampf um den Klassenerhalt in der 2. Bundesliga ein denkbar knappes aber verdientes 3,5-2,5 im direkten Duell mit dem Konkurrenten aus Gernsheim! Ein grandioser Sieg und ein erhebendes Gefühl, selbst wenn ich nur als Begleiter und Maskottchen dabei war.

Und nach einem furiosen 6:2 Auswärtssieg in Trostberg war unsere 1. Mannschaft in der Oberliga Bayern ganz nahe dran an der Meisterschaft und dem Aufstieg in die 2. Bundesliga. Aus den verbleibenden beiden Runden benötigten wir nur noch zwei bzw. einen Punkt, um den Triumph perfekt zu machen.

Und so war die Vorfreude auf den letzten großen Heimkampf der Saison mit vier Teams in der Aula des Goethe-Gymnasiums riesengroß, bis die Corona-Krise uns alle jäh ausbremste und die ganze Welt in Stillstand versetzte.

Als nach und nach alle Ligen und Turniere gestoppt werden mussten, wurde die Frage nach anderweitigen schachlichen Aktivitäten immer lauter. Was tun in diesen Quarantäne-Zeiten, um nicht vollkommen einzurosten? Und da erinnerte ich mich wieder an das scheinbar verstaubte Fernschach.

Einblick

Nachdem unsere beiden Administratoren (Martin K. und Martin B.) ganze Arbeit geleistet und auf der kostenlos nutzbaren Plattform „lichess“ den Aufbau einer Bavaria-Online-Präsenz erfolgreich vorangetrieben hatten, waren die technischen Voraussetzungen geschaffen, um nicht nur die üblichen Blitzpartien, sondern auch gemütliche Fernpartien mit einer Bedenkzeit von bis zu 14 Tagen pro Zug zu spielen.

Ich war Feuer und Flamme und vereinbarte sofort mit meinem alten Kumpel Butch eine Partie, in der ich gegen seine notorische Bremer Partie (1.c4) etwas neues ausprobieren wollte. Doch dabei sollte es nicht bleiben.

Schon kurze Zeit später verabredete ich mich mit Martin B. zu weiteren acht(!) Partien, die mir als Grundlage zur Erweiterung meines Schwarzrepertoires dienen sollten. In sieben Partien wählte ich Eröffnungen oder Varianten, die ich noch nie zuvor in meinem Schachleben gespielt hatte! Meiner Meinung nach eine glänzende Idee, um über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen, die eigenen Recherche- und Analysefähigkeiten zu schärfen und damit meinen (schachlichen) Horizont zu erweitern.

Ich war begeistert und einfach nur dankbar, mich in dieser schweren Zeit ernsthaft und quasi unter Wettkampfbedingungen mit Schach befassen zu können, zu traurig war doch das abrupte Ende zuvor gewesen. Doch es sollte noch besser kommen!

Unsere Admins, inklusive unseres fleißigen Helferleins Tomass, der sich parallel um die Bereitstellung eines Bavaria Discord Servers verdient machte, brüteten ständig darüber danach, wie sie die Benutzererfahrung für uns alle weiter optimieren könnten.

Heraus kam schließlich die grandiose Idee und Umsetzung der 1. Bavaria Fernschach-Vereinsmeisterschaft 2020 (FSVM)! Das beste, was mir in der aktuellen Situation passieren konnte. Und vermutlich nicht nur mir! Prompt war es auch kein großes Problem zehn Spieler zu finden, die sich allesamt und voller Enthusiasmus am 1. April in ihre Partien stürzten. Und das war kein Aprilscherz!

Doch damit nicht genug. Nach einer weiteren fruchtbaren Diskussion fanden wir sozusagen das Tüpfelchen auf dem „i“, oder einfach das Sahnehäubchen, wie ich es formulieren würde. Um den Spaß und den Anreiz noch weiter zu steigern, werden für die drei besten Partien des Turniers Schönheitspreise verliehen!

Das gibt es zu gewinnen

Welcher Verein hat so etwas für ein internes Turnier schon im Angebot? Bavaria ist einfach Spitze!

Natürlich bedarf es für die Entscheidungsfindung einer oder mehrerer geeigneter, kompetenter und empathischer Personen. Daran arbeiten wir noch. Lasst euch überraschen!

Der aktuelle Turnierstand ist nach noch nicht einmal drei Monaten Dauer natürlich noch wenig aussagekräftig, wird aber regelmäßig aktualisiert und kann auf unserem Discord Server im Ordner LICHESS/fsvm eingesehen werden.

Und wer einen Vorgeschmack haben möchte, kann alle 90 Partien des Turniers live auf unserer lichess Seite verfolgen. Wenn das kein Service ist!

Hier sind sie.

Fazit

Mir persönlich bringt der unerwartete Wiedereinstieg in das Fernschach sehr viel, nicht nur wegen der aktuellen Situation. Alte Liebe rostet eben nicht! Die dauerhafte Beschäftiging mit allen Phasen des Spiels statt oft nur einer kurzen Vorbereitung am Samstag Abend vor einem Ligaspiel, birgt großes Potential zur eigenen Verbesserung. Und die Spannung und Vorfreude beim warten auf den nächsten Zug des Gegners weckt viele positive Erinnerungen. Ich kann nur jedem empfehlen, es mal auszuprobieren.

Ausblick

Lust bekommen? Wir sind nicht auf eine Vereinsmeisterschaft beschränkt. Viele Formate sind möglich. Thematurniere, Pokalturniere, oder was das Herz sonst noch begehrt. Warum nicht Vier-Spieler-Turniere mit Halbfinals, Spiel um Platz 3 und Finale? Eine Jahres- und „Alltime“-Wertung? Auch mit kürzerer Bedenkzeit, um den Fortschritt etwas zu beschleunigen? Die Möglichkeiten sind unbegrenzt!

Wendet euch mit Wünschen und Vorschlägen aller Art an unsere Admins Martin & Martin, das nächste Turnier könnte schon morgen starten!

Bleibt gesund und Bavaria treu!

Euer Stephan